
"change: a homeless survival experience" im test: obdachlos in pixelhausen
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Fotostrecke Das ist "Change: A Homeless Survival Experience" Foto: Delve Interactive Eigentlich ist es ganz einfach, auf der Straße zu überleben und der Obdachlosigkeit zu
entkommen. Eigentlich. Man braucht nur etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen. Dann besorgt man sich eine Arbeit. Und dann mietet man sich eine Wohnung. Schon ganz am Beginn von
"Change: A Homeless Survival Experience" ist der Weg, der im Spiel raus aus der Obdachlosigkeit führt, klar vorgezeichnet. Die Gründe, warum man auf der Straße gelandet ist, sind
nebensächlich und werden nur angedeutet: Alkohol, gewalttätige Beziehungen, Pech gehabt. Die Grafik des Spiels ist im simplen Pixelstil gehalten, der Weg der eigenen Figur ohne Bleibe führt
nur von links nach rechts, vorbei an Geschäften, Mülleimern, Parkbänken. Man kann Passanten um Geld anbetteln, solange kein Polizist in der Nähe ist. Man kann Abfall sammeln und für mageren
Ertrag dem Recycling zuführen. Wer sich eine Gitarre leisten kann, musiziert auf der Straße. ÜBERNACHTEN, WIE ES GERADE GEHT Wenn es Nacht wird, kann man sich beizeiten einen Schlafplatz in
einem Obdachlosenasyl suchen, oder man schläft auf einer Parkbank, oder in einem Zelt im Park, wenn man eines hat. In der Bibliothek kann man sich für Job-Interviews vorbereiten, mit einem
Job bekommt man eine Wohnung. Eigentlich einfach. Eigentlich. Praktisch jedoch ist es fast unmöglich, in "Change" aus der Falle der Obdachlosigkeit zu entkommen, egal, wie sehr man
sich bemüht. Eine Arbeit bekommt nur, wer gut vorbereitet, sauber, nüchtern und psychisch stabil ist - und selbst dann ist es nicht ausgemacht, dass man den Job zum Mindestlohn tatsächlich
kriegt. In der Bibliothek darf nur büffeln, wer regelmäßig im selben Asyl übernachtet. Die Motivation, überhaupt zu lernen, hat nur, wer nicht depressiv ist, oder zu viel Hunger hat, oder zu
schmutzige Kleidung trägt. EIN TEUFELSKREIS AUS SPIELMECHANIKEN Aus derart miteinander verzahnten kleinen Spielmechaniken erschafft das Spiel eine Aufgabe, die alles andere als trivial ist.
Die Ressourcen Geld, Hunger, psychische Stabilität und Sauberkeit müssen sorgsam ausbalanciert werden, und die monotonen Tage verfliegen schnell, während man auf den Straßen der Stadt
herumläuft. Dazu kommt die Ungerechtigkeit des Schicksals, das per Zufallsgenerator zuschlägt, denn der Absturz ist stets nur einen blöden Zufall, eine falsche Entscheidung entfernt. Mit
etwas Pech wird einem nachts in der Unterkunft Geld oder, schlimmer, die Gitarre gestohlen, mit der man sich sein Geld verdient. Mit dem falschen Timing landet man wegen wiederholtem Betteln
über Nacht im Knast. Ein halb gegessener Apfel, den man sich aus der Mülltonne gefischt hat, oder nur das Herumlaufen in der Kälte macht die eigene Spielfigur krank. Es gibt viele
Möglichkeiten in "Change", plötzlich wieder abzustürzen - und wenn eine der Ressourcen dauerhaft auf null steht, heißt es "Game over". Ein neuer Start bringt wieder
andere Herausforderungen, durch wiederholtes Spielen - und Scheitern - werden zusätzliche Gegenstände und Optionen freigeschaltet. "Change" zeigt die Monotonie des Lebens auf der
Straße, lässt aber zugleich so viel Entscheidungsfreiheit, dass wiederholte Partien abwechslungsreich bleiben, weil man etwas Neues ausprobieren will. SCHONUNGSLOS UND SENSIBEL Das Thema
Obdachlosigkeit wurde in Videospielen zuvor kaum ernsthaft behandelt. Wenn zerlumpte Großstadtbewohner im Medium auftauchen, dann meist als Gegner oder Elends-Deko. Berüchtigte Titel wie das
unsägliche "Pennergame" oder der in Entwicklung stehende "Bum Simulator" tragen überdies mit plumper Alki-Romantik zur Armutsdiskriminierung und bestehenden Vorurteilen
bei. Dass sie als "Satire" verstanden werden wollen, macht die Herabwürdigung ihrer Protagonisten nicht besser. Gesellschaftliche Themen wie extreme Armut im interaktiven Medium zu
behandeln, ist auch aus einem anderen Grund heikel. Weil Videospiele per Definition Aufgaben stellen, die für die Spielerschaft auf unterhaltsame Art und Weise durch Geschick, Planung oder
Beharrlichkeit lösbar sind, fällt das Urteil der Spieler über jene, die im realen Leben am Weg aus der Obdachlosigkeit scheitern, unter Umständen danach sogar weniger empathisch aus als
zuvor. Nach dem Motto: Wahrscheinlich haben sich die, die es nicht schaffen, einfach nicht genug angestrengt. "Change: A Homeless Survival Experience" entgeht dieser Gefahr durch
Differenzierung. Das Spiel dreht sich nicht nur um die simple Ressourcenverwaltung, es bietet auch gut geschriebene Texte und sensible Beobachtungen. Wer es irgendwann, nach endlosen
Rückschlägen und Fehlversuchen, doch einmal geschafft hat, im Spiel der Straße zu entkommen, blickt kaum mit weniger Mitgefühl auf jene herab, die genau das in der Realität nicht zuwege
bringen - im Gegenteil. EIN NEUER BLICK AUF DIE WIRKLICHKEIT In den Onlinebewertungen zu "Change" melden sich Nutzer mit eigenen, realen Erfahrungen mit dem Leben in der
Obdachlosigkeit zu Wort und bestätigen dem Spiel, ein abstrahiertes, aber realistisches Bild zu zeichnen. Der Tenor der weiteren durchweg positiven Nutzerberichte ist, dass sich durch dieses
Spiel ihr Blick auf Obdachlose geändert habe - zum Besseren. "Change" führt tatsächlich dazu, dass zumindest manche seiner Spielerinnen und Spieler reale Obdachlose mit anderen
Augen sehen. Die Entwickler haben sich eigenen Aussagen zufolge eingehend mit ihrem Thema beschäftigt, haben bei Obdachlosen, karitativen Einrichtungen und Wissenschaftlern recherchiert. 20
Prozent der Einnahmen des Spiels gehen an eine NGO, die Obdachlose unterstützt. Die große Stärke des Mediums Videospiele, durch ihre einzigartige Interaktivität Mechanismen und Zusammenhänge
nicht nur zu zeigen und zu erklären, sondern sie zusätzlich erfahrbar und somit besser nachvollziehbar zu machen, löst dieses kleine Spiel über ein reales gesellschaftliches Problem über
weite Strecken ein. _"Change: A Homeless Survival Experience" ist für Windows, Mac und Linux erschienen._