Machtbalance in der türkei: demokratietest für erdogan

Machtbalance in der türkei: demokratietest für erdogan


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die Bilder, die für jeden die Zeichen der Zeit deutlich machen. Wer in diesen Tagen eine der türkischen Zeitungen aufschlägt, sieht fast überall dasselbe Titelfoto: Ministerpräsident Recep


Tayyip Erdogan, wie er einsam und allein am Kopfende eines großen Konferenztisches thront. Die höchsten Militärs sitzen ebenfalls am Tisch - aber mit gehörigem Abstand. Die Konferenz, der


Erdogan vorsitzt, ist der sogenannte Hohe Militärrat des Landes, ein Gremium, in dem bis vor wenigen Jahren die Militärs das Sagen hatten. Sie bestimmten, wer in den Generalstab aufstieg,


sie entschieden über Hunderte von Beförderungen. Die Beschlüsse des Militärrates wurden dann anschließend dem Präsidenten vorgelegt und von diesem bestätigt. Diese Zeiten, das machen die


Bilder deutlich, sind endgültig vorbei. Schon im letzten Jahr hatte Erdogan sich bei dem immer im August tagenden Hohen Militärrat eingemischt und selbst aktiv in die Personalplanung der


Militärs eingegriffen. In diesem Jahr hat der Ministerpräsident sich nun nicht mehr nur eingemischt. Erdogan traf die Entscheidungen, die Militärs durften sie abnicken - oder sich in den


Ruhestand verabschieden. Sie entschieden sich für den Ruhestand. Dem ungläubigen türkischen Publikum, seit Jahrzehnten gewohnt, dass in den wirklich wichtigen Fragen des Landes das Militär


das letzte Wort hat, erklärte Bülent Arinc, stellvertretender Regierungschef und gleichzeitig Regierungssprecher, die neue Lage so: "Es kann in jedem Dorf halt nur einen Schulzen


geben". Was mit dem Rücktritt der gesamten Spitze der türkischen Armee am Freitag letzter Woche begann, wurde nun mit der Ernennung des neuen Generalstabes am Donnerstagmittag beendet:


Die Türkei hat erstmals eine Militärführung, die das Primat der Politik anerkennen muss. Damit endet die Sonderrolle, die das Militär über die gesamte Zeit der türkischen Republik seit 1923


innehatte. DER NEUE GENERALSTABSCHEF WURDE SCHON LANGE GEFÖRDERT Der neue Generalstabschef Necdet Özel ist von Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül schon vor längerer Zeit als ihr


Favorit ausgesucht und gefördert worden. Seine Aufgabe wird es nun sein, die gesamte Institution der Armee umzubauen und an die neue Zeit anzupassen. Rein formal ist damit in der Türkei ein


weiterer Normalisierungsschritt hin zu westeuropäischen Verhältnissen erfolgt, was von der EU auch bereits entsprechend gelobt wurde. Diese Normalisierung soll nun im Wege einer neuen


Verfassung, über die das Land nach der Sommerpause diskutieren wird, abgeschlossen werden. Noch ist es so, dass der Generalstab dem Ministerpräsidenten berichtet, in vielen Entscheidungen


aber autonom agiert. Die neue Verfassung sieht jetzt vor, dass die Armee - wie in allen anderen EU-Ländern auch - in Friedenszeiten dem Verteidigungsminister unterstellt wird, und nur in


Kriegszeiten der Staatspräsident als Oberster Befehlshaber fungiert. Der demokratische Fortschritt löst in der Türkei allerdings keine ungeteilte Freude aus. Manche Kritiker meinen gar, der


Fortschritt auf dem Papier sei in Wirklichkeit gar keiner. Tatsächlich repräsentierte die Armee in der Türkei vor allem in den letzten zehn Jahren eben nicht nur einen vordemokratischen, auf


Waffen gestützten eigenen Machtanspruch. Die Armee galt und gilt auch als Hüterin der säkularen Verfassung des Landes und war deshalb für viele nicht religiöse Türken so etwas wie eine


Schutzmacht gegen den immer stärker werdenden islamischen Teil der Gesellschaft - und gegen die regierende AKP unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Die AKP und ihr Vorsitzender Tayyip


Erdogan kontrollieren nun auch die letzte konkurrierende Machtinstitution im Land. Ob sie jetzt der Demokratie endgültig zum Durchbruch verhelfen werden, wie ihre Anhänger jubeln, oder aber


ein Regime etablieren, in dem demokratische Alternativen kaum mehr eine Chance haben, wird sich erst noch zeigen müssen. ERDOGANS TRAUM: EINE PRÄSIDENTSCHAFT NACH US-VORBILD Der Lackmustest


für Tayyip Erdogan wird jetzt die von ihm schon seit Jahren angekündigte neue Verfassung. Erdogan selbst hat mehrfach bekundet, dass er das jetzige parlamentarische System der Türkei am


liebsten durch ein Präsidialsystem nach französischem oder US-amerikanischem Muster ersetzen würde. Das aber würde in der Türkei, deren politische Kultur sowieso auf starke Männer an der


Spitze fixiert ist, nichts anderes als eine Diktatur auf Zeit bedeuten. Das Land hat eben nicht die demokratische Tradition Frankreichs, und dem System mangelt es an Gegengewichten, die die


Macht des amerikanischen Präsidenten einhegen. Noch fehlen Erdogan einige wenige Stimmen im Parlament, um eine solche Verfassungsänderung durchsetzen zu können. Doch das kann sich schnell


ändern. Fünf oder sechs Stimmen aus den anderen Parteien herüberzuziehen, ist im türkischen Parlament nicht unmöglich. Vor allem, wenn die Öffentlichkeit entsprechend eingestimmt wird. Denn


neben dem Militär, das nun als letztes die Waffen gestreckt hat, mussten auch die Medien, die Erdogan gegenüber kritisch eingestellt sind, schon länger die Erfahrung machen, dass der


Ministerpräsident kritische Stimmen nicht schätzt. Rund 70 Journalisten sitzen im Gefängnis. Seit dem Wahlsieg Erdogans Mitte Juni sind kritische Fernsehsender dabei, ihre profiliertesten


Leute zu entlassen, um dem Druck der Regierung zuvorzukommen. Jenseits des Regierungslagers löst Erdogans Sieg über das Militär deshalb keinen demokratischen Jubel, sondern Angst vor der


Zukunft aus. Für sie ist die Armee nun weniger eine "Armee des Volkes", wie Journalisten regierungsfreundlicher Zeitungen jetzt schreiben, als vielmehr eine "Imam


Ordusu", die Armee des Imams.