
Afghanistan: was die taliban-herrschaft für hilfsorganisationen bedeutet
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über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme. Alle Artikel Marianne O'Gradys Koffer sind schon gepackt.
Sie wartet darauf, dass sie nach Kabul fliegen kann – zurück in die Stadt, aus der sie vor einer Woche evakuiert wurde. Die stellvertretende Landesdirektorin von Care International arbeitet
gerade aus der jordanischen Hauptstadt Amman; ihre Organisation hatte ihre ausländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen vorübergehend außer Landes bringen lassen.
Jetzt hoffen O'Grady und ihr Team auf die Uno-Luftbrücke, über die Angestellte humanitärer Organisation bald ein- und ausgeflogen werden sollen. »Sobald das passiert, werden wir an Bord
gehen«, sagt die US-Amerikanerin, die seit Jahrzehnten in Afghanistan arbeitet. »Wir wollen nicht hier in Amman herumsitzen, wir wollen in Kabul sein – dort ist unser Job und dort werden
wir gebraucht.« Denn während sich die Aufmerksamkeit der Welt vor allem auf das Chaos am Kabuler Flughafen und die Lage der verzweifelten Menschen in der Hauptstadt richtet, ereignet sich im
Rest des Landes eine humanitäre Katastrophe . Jeder dritte Afghane leidet unter Mangelernährung oder Hunger. Die Welternährungsorganisation FAO hat dazu aufgerufen , die humanitäre Hilfe
schnell aufzustocken, da Afghanistan von einer extremen Dürre betroffen sei – Saatgut müsse jetzt dringend verteilt werden, sonst drohe die Winterernte auszufallen. Die Lebensmittelpreise
steigen, viele Menschen können sich Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten – oder sie kommen nicht an ihr Geld heran, da das Finanzsystem kurz vor dem Kollaps steht. Hunderttausende
Menschen sind zudem vor den Kämpfen während des Umbruchs in den vergangenen Monaten geflohen, rund 3,5 Millionen Afghanen sind UNHCR zufolge derzeit Flüchtlinge im eigenen Land. Hinzu
kommt, dass überlastete Gesundheitszentren und Krankenhäuser gerade gegen eine dritte Corona-Welle kämpfen. Die Taliban, die nun dabei sind, die neue Regierung zu bilden, sind auf
Hilfsorganisationen angewiesen, um die Probleme zu stemmen. Der afghanische Staatshaushalt von Afghanistan hängt zu zwei Dritteln von internationalen Geldern ab, doch Organisationen wie die
Weltbank und Regierungen wie Schweden oder Deutschland haben nach der Machtübernahme der Taliban zugesagte Gelder eingefroren . Von der geplanten deutschen bilateralen Entwicklungshilfe für
2021 in Höhe von 182 Millionen Euro sei einem BMZ-Sprecher zufolge »bisher kein Euro ausgezahlt« worden. »Die Voraussetzungen, an die die staatliche Entwicklungszusammenarbeit geknüpft ist,
sind in Afghanistan derzeit nicht gegeben, allen voran die Sicherheit der Mitarbeitenden und die Achtung der Menschenrechte«, teilte er dem SPIEGEL mit. Stattdessen seien »in einem ersten
Schritt 50 Millionen Euro als Soforthilfe zur Unterstützung von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen in der Region« zugesagt worden. Auch viele NGOs haben Projekte während der angespannten
Übergangszeit vorerst gestoppt; andere, wie Oxfam, schließen ihre Länderbüros in Afghanistan ganz. Die Organisationen, die im Land bleiben, haben künftig also noch mehr zu tun – und sie
müssen sich mit den neuen Machthabern arrangieren. Wie mehrere internationale sowie kleinere lokale NGOs dem SPIEGEL bestätigten, gehen Taliban-Vertreter derzeit aktiv auf die Helfer zu,
werben dafür, dass sie ihre Arbeit fortsetzen – doch viele Fragen sind noch offen. »Die Taliban sind in viele unserer Büros gekommen, haben uns Unterstützungsbriefe gegeben und uns gebeten,
unsere Programme weiterzuführen«, erzählt Marianne O'Grady von Care International. »Aber um die Projekte wieder aufzunehmen, müssen wir wissen, wie die neuen Regeln und Vorschriften
aussehen.« Teils würden NGOs von verschiedenen lokalen Taliban-Vertretern »unterschiedliche Aussagen« dazu erhalten, ob beispielsweise alle humanitären Helfer, also Männer und Frauen, ihre
Arbeit wieder aufnehmen dürften, ob Frauen nur im Büro oder auch »im Feld« eingesetzt werden könnten – und ob sie dabei eine Burka tragen müssten. Dass humanitäre Organisationen auch mit
umstrittenen bewaffneten Konfliktparteien verhandeln, ist nichts Neues: »Werden wir mit den Taliban reden? Warum nicht, das haben wir immer getan«, bekennen auch Mitarbeiter von Ärzte ohne
Grenzen . Neu ist aber, wie offen NGOs derzeit damit umgehen, dass sie Gespräche mit den Taliban führen – und wie geschlossen sie vorgehen. Kleine wie große, afghanische und internationale
Organisationen stimmen sich mit Uno-Vertretern ab; und diese führen dann die Gespräche mit den Taliban in Kabul im Namen aller Hilfsorganisationen – um Richtlinien für die Wiederaufnahme der
Projekte festzulegen. O'Grady zufolge soll ein Chaos wie im Jemen vermieden werden, wo NGOs einzeln Verhandlungen mit Konfliktparteien geführt hätten. »Wir brauchen jetzt eine
koordinierte Vorgehensweise, damit wir in der Lage sind, den Bürgern schnellstmöglich zu helfen – sie haben Hunger, brauchen dringend Trinkwasser, Zugang zu Gesundheit und Bildung«, sagt
sie. Welche Rolle werden NGOs also künftig in einem Taliban-Staat spielen? »Die Taliban wollen, dass die Hilfsorganisationen bleiben und weiterarbeiten – aber sie wollen sie auch
kontrollieren«, sagt Ashley Jackson, Co-Direktorin des Centre for the Study of Armed Groups des Londoner Thinktanks Overseas Development Institute (ODI). Sie geht davon aus, dass es für
humanitäre Organisationen »eine Art Gnadenfrist« geben werde, während der die Taliban sie motivieren würden, im Land zu bleiben – später würden sie diese vermutlich zunehmend regulieren und
versuchen, ihre Arbeit stärker zu steuern. Jackson forscht seit Jahren zum Verhältnis von humanitären Organisationen und den Taliban – das sich im Lauf der Zeit extrem gewandelt habe.
»Früher haben die Taliban Entwicklungshelfer gezielt attackiert und sie als Werkzeuge der Besatzungsmächte gesehen«, erklärt sie. »Aber in den vergangenen Jahren haben sie erkannt, dass sie
auf NGOs, Uno-Agenturen und andere Initiativen angewiesen sind, wenn sie eine funktionierende Regierung bilden wollen.« Für die von ihnen teils seit Jahren kontrollierten Regionen hätten die
Taliban eine eigene Politik im Umgang mit NGOs entwickelt. »Wenn Sie heute als NGO in einem Taliban-Gebiet arbeiten, mussten Sie wahrscheinlich ein Genehmigungs- oder
Registrierungsverfahren durchlaufen«, sagt Jackson. NGO-Vertreter müssten dabei bei den lokalen Taliban-Vertretern Unterlagen wie Projektbeschreibungen und Budgetpläne vorlegen. Häufig werde
auch diskutiert, ob die NGOs für den Zugang zu Gebieten eine sogenannte Steuer zahlen müssten – Schmiergeld. Lokale Projekte und humanitäre Organisationen, die Lebensmittel verteilen,
Schulen betreiben oder Impfungen durchführen, müssten der Expertin zufolge meist keine Abgabe zahlen – beim Bau von Straßen oder Krankenhäusern hätten die Taliban dagegen in der
Vergangenheit teils zehn bis 15 Prozent Anteil gefordert. Taliban-Vertreter prüfen auch, welche Mitarbeiter bei NGOs angestellt sind. So hätten sie etwa manchmal Einwände gegen Mitarbeiter
erhoben, die der bisherigen Regierung nahestanden oder manchmal versucht, Einfluss auf die Rekrutierung von neuen Mitarbeitern zu nehmen. Der deutsche Arzt Reinhard Erös hatte schon oft mit
Taliban-Vertretern Kontakt. Erös hat die Kinderhilfe Afghanistan gegründet und betreibt in mehreren Provinzen in der Nähe zur pakistanischen Grenze 30 Schulen, eine Universität,
medizinische Einrichtungen und Projekte wie Schneidereien oder eine Fotovoltaik-Werkstatt. Seit Beginn der Pandemie teilen die lokalen Mitarbeiter auch Lebensmittel an bedürftige Familien
aus. Vor dem Start neuer Projekte sprach er sich bisher mit den zuständigen Bürgermeistern sowie mit den lokalen Mullahs ab, also den Taliban-Vertretern – jetzt haben die Taliban auch
offiziell die Schlüsselposten in Politik und Verwaltung übernommen. Nach der Machtübernahme habe Erös Anrufe von Provinzgouverneuren und -ministern erhalten, die ihn aufgefordert hätten,
seine Projekte weiterzuführen – und auszubauen. »Die Leute kennen mich und vertrauen mir, ich kenne die Kultur und spreche die Sprache – bisher hat alles völlig reibungslos funktioniert«,
sagt er. An seinen Schulen würden Mädchen und Jungen ohnehin getrennt unterrichtet, so wie es in Afghanistan traditionell üblich sei. Er glaubt, dass die Taliban aus ihren Fehlern gelernt
hätten und nicht noch einmal Frauen aus Bildung und Berufen herausdrängen würden. Erös zufolge seien die Gebiete, in denen er tätig ist, jetzt sogar sicherer als in den vergangenen 20
Jahren: »Die Kinder können in Ruhe zur Schule gehen, sie müssen keine Angst mehr vor Schießereien, US-Drohnen oder Straßenbomben mehr haben.« Auch medizinische Helfer erleben außerhalb der
Großstädte seit dem Abzug der internationalen Truppen eine Ruhephase. »Der Krieg ist vorerst vorbei, in den Vororten fühlt sich der Alltag langsam wieder normal an«, sagt Dominik Stillhart,
Direktor für internationale Einsätze des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. »Unsere Programme laufen reibungslos.« Wie lange die Ruhe andauere, sei ungewiss – der IS-Ableger »ISIS-K«
habe mit dem Anschlag auf den Flughafen in Kabul bewiesen, dass er zu komplexen Terroranschlägen fähig sei. Die rund 1800 Mitarbeiter vom Roten Kreuz in Afghanistan unterstützen
Krankenhäuser und Gesundheitszentren und müssen gerade einen großen Ansturm von Patienten bewältigen: Corona-Infizierte, schwangere Frauen, aber auch Menschen mit älteren Wunden. Während der
Kämpfe in den vergangenen Monaten wurden Zehntausende verletzt, viele trugen Behinderungen davon – doch der Zugang zur Krankenversorgung war vielen Afghanen versperrt. Stillhart sorgt sich
darum, wie das Gesundheitssystem langfristig am Laufen gehalten werden soll: »Das System hat auch deshalb funktioniert, weil es durch Entwicklungsgelder und bilaterale Hilfe unterstützt
wurde, und wenn dieses Geld nicht weiter fließt, besteht die Gefahr, dass einige dieser Dienste zusammenbrechen.« Das Rote Kreuz hat derzeit ausreichend Medikamente auf Vorrat; auch ein
Flugzeug mit Medikamenten an Bord für Ärzte ohne Grenzen hat es gerade noch nach Kabul geschafft, bevor der Flughafen für die Evakuierungsflüge blockiert wurde._ _Ärzte ohne Grenzen bleibt
mit derzeit rund 2400 Mitarbeitern vor Ort. »Wir gehen eher davon aus, dass der Bedarf noch größer wird, weil sich einige Organisationen zurückgezogen haben und die Versorgungslage jetzt
noch schwieriger wird«, sagt Christian Katzer, Geschäftsführer von MSF in Berlin. Bei den Verhandlungen mit den Taliban muss noch geklärt werden, welche Rolle die Taliban Frauen in der
zukünftigen Gesellschaft einräumen – dies wird auch Mitarbeiterinnen humanitärer Organisationen und Projekte für Mädchen und Frauen beeinflussen. Afghanische Frauenrechtlerinnen wie die
Ex-Bürgermeisterin Zarifa Ghafari und Expertinnen wie Vanda Felbab-Brown vom US-Think-Tank Brookings gehen davon aus, dass Frauenrechte unter den Taliban weiter eingeschränkt werden. »Wie
das Leben und die Einschränkungen für Frauen unter der Taliban-Herrschaft aussehen werden, hängt vom Machtkampf zwischen den zahlreichen Taliban-Fraktionen, von der Fähigkeit der lokalen
Gemeinschaften, mit lokalen Taliban-Vertretern zu verhandeln, und vom internationalen Engagement gegenüber dem Taliban-Regime ab«, glaubt Vanda Felbab-Brown . Auch Expertin Ashley Jackson
sieht Regierungen weltweit jetzt in der Pflicht mit den Taliban zu verhandeln und auch humanitäre Hilfe, Gesundheit und Bildung weiter zu finanzieren – die Hilfsgelder einfach einzustellen
würde »eine katastrophale Wirkung« haben. Wenn die internationale Gemeinschaft die Taliban isoliere, hätte sie zudem kein Druckmittel mehr – und auch NGOs könnten dann »dem Zorn der Taliban«
ausgesetzt sein, »weil sonst niemand mehr übrig ist«. DIESER BEITRAG GEHÖRT ZUM PROJEKT GLOBALE GESELLSCHAFT Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus
ASIEN, AFRIKA, LATEINAMERIKA UND EUROPA über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen,
Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates
Foundation (BMGF) unterstützt. Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier. Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019
für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Millionen Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. 2021 wurde das Projekt zu gleichen Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr
2025 verlängert. Ja. Die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Gates-Stiftung. Ja. Große europäische Medien wie »The Guardian« und »El País« haben mit »Global
Development« beziehungsweise »Planeta Futuro« ähnliche Sektionen auf ihren Nachrichtenseiten mit Unterstützung der Gates-Stiftung aufgebaut. Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits
zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation umgesetzt: die »Expedition ÜberMorgen « über globale
Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals «, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte Multimediareportagen zu den Themen Migration und Flucht
entstanden sind. Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft .