Soziale medien in china: die neuen hipsteromas aus peking

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über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme. Alle Artikel Wir könnten diesen kleinen Text mit Statistiken


über Ü60-Jährige anfangen oder mit den Wörtern Altenheim oder Renteneintrittsaltersdurchschnitt. Aber nein, nein, nein, nein, wir beginnen mit diesem Zitat: »Wenn du immer Angst vor dem


Altern hast, ist dein Leben grau. Natürlich wirst du älter, bekommst Falten, hast nicht mehr so viel Energie oder bist nicht mehr so gut in Form. Aber dagegen kannst du dich nicht wehren.


Warum dem also nicht positiv entgegensehen?« Gesagt hat das Lin Wei, Rentnerin, 65 Jahre, Chinesin aus Peking. Sie ist, seit ein paar Jahren, eine Berühmtheit im chinesischen Internet.


Gemeinsam mit ihren drei Freundinnen. Die vier, die alle über 60 sind, nennen sich die »Glamma Beijing«, eine Wortschöpfung aus »Glamour« und »Ma«, also glamouröse Mütter – und laden unter


diesem Namen regelmäßig Videos in der chinesischen TikTok-Version Douyin hoch. Es geht auf ihrem Account um Mode, Make-up, ums Schönsein. Angefangen hat der Hype, als die Freundinnen am


Anfang der Pandemie in traditionellen Qipao-Kleidern und High Heels einen Shopping-Distrikt in Peking hinuntercatwalkten und ein Video davon ins Netz stellten. Seitdem gehen die vier


regelmäßig zu Shootings, präsentieren Mode und zeigen ein Bild von älteren Frauen, das man in China – wie an so vielen anderen Orten der Welt – zuvor kaum zu sehen bekommen hat: Frauen mit


grauen Haaren und Falten, die nicht das Enkelkind im Kinderwagen vor sich herschieben oder im Wartezimmer vom HNO-Arzt sitzen, sondern sich für Styling interessieren und sich an ihrem Körper


erfreuen. Gerade für Großmütter gilt in China traditionell: Sie erledigen, so lange sie können, weiter Hausarbeiten in der Großfamilie und passen auf die Enkel auf, während deren Eltern


arbeiten und Geld verdienen. Der Fotograf Gilles Sabrié, der in Peking lebt, hat die Frauen vor einigen Monaten begleitet; eine Auswahl seiner Bilder aus der Zeit sind zuerst in der »New


York Times « erschienen. Sabrié sagt: »Die Frauen zeigen: Alt werden heißt nicht unbedingt langsam aus dem öffentlichen Leben zu verschwinden. Es kann auch heißen: Endlich hat man Zeit,


etwas für sich selbst zu tun. Spaß zu haben!« Die chinesischen Rentnerinnen hebeln mit ihren Auftritten im Internet eine weitverbreitete Annahme aus: Dass man vor dem Alter Angst haben muss.


Dass man einsamer, unbedeutend und mindestens etwas traurig wird. Als gäbe es das Wort »Ageing« nur in Kombination mit der Beschreibung »Anti«, als etwas, das es zu bekämpfen gilt. Wie die


»Glamma Beijing« präsentieren immer mehr ältere Chinesen und Chinesinnen nun ihren Alltag online einem Millionenpublikum. Gerade in den vergangenen drei Jahren, in denen die chinesische


Regierung fast alle Aktivitäten aufgrund der extrem strikten Covid-Maßnahmen eingeschränkt hatte, suchten offenbar viele Menschen Ablenkung und Kreativität im Internet. Manche laden


Tanzvideos hoch, andere filmen sich, wie sie mit fast 90 Jahren Videospiele zocken. Da ist die Rentnerin Su Min, eine ehemalige Fabrikarbeiterin, Großmutter, aus der Provinz Henan. Sie begab


sich allein auf eine Reise durch China, streamte diese, und wurde zu einer Berühmtheit im ganzen Land. Online sprach sie nämlich nicht nur über schöne Landschaften, sondern auch über ihre


missbräuchliche Ehe, darüber, dass sie genug habe vom Hausfrauenleben und wie toll ihre neue Freiheit sei. Da ist die TV-Show »Blind Date and Fall in Love«, eine Datingshow , in der alle


Teilnehmenden über 50 sind. Oder die Plattform »Beijing Dama Have Something to Say «, auf der Frauen zwischen 60 und 80 in Hunderten Videos über ihren Alltag sowie Gutes und Schlechtes am


Altsein in China sprechen. Ihr Publikum: oft Gleichaltrige, aber auch 30-Jährige, sagt der Fotograf Sabrié. »Als ich die ›Glamma Beijing<-Frauen begleitete, kamen immer wieder junge


Leute, die ein Selfie wollten und sagten, die Frauen seien ihr Vorbild«, erzählt er. Natürlich könnten, so Sabrié weiter, die aktiven Alten im Internet nicht über Chinas riesige


demografische Herausforderung hinwegtäuschen: Die Geburtenraten in dem Land sind niedrig, die Alten werden immer älter, und dadurch im Vergleich eine immer größere gesellschaftliche Gruppe:


2019 lebten 260 Millionen Über-60-Jährige in dem Land mit insgesamt 1,4 Milliarden Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus , dass im Jahr 2040 28 Prozent der chinesischen


Bevölkerung 60 Jahre oder älter sein wird. Das Modell, auf das sich bisher viele verlassen haben – Altersvorsorge als Familiensache, die Jungen kümmern sich um die Alten – geht in vielen


Fällen nicht mehr auf. Die, die jetzt alt werden, haben ihre Familien in den 1980er-Jahren gegründet, eine Zeit, in der die strikte Ein-Kind-Politik der Regierung galt. Ein einziges Kind


kann aber nicht unbedingt zwei Elternteile versorgen. In der Folge sind viele Pensionierte auf sich allein gestellt, rutschen im Alter in die Armut ab, viele sind Single, verwitwet oder


geschieden. Altenheime gibt es nicht genug. Die Folge: Viele ältere Chinesinnen und Chinesen leiden unter Depressionen und Einsamkeit. Menschen über 70 begehen in China viermal so häufig


Suizid  wie jüngere Altersgruppen. Können die erfolgreichen Insta-Omis und -Opis eine Antwort sein auf die alternde chinesische Gesellschaft? So jedenfalls sieht es Sun Yang, ehemals


Lehrerin, heute Mitglied der »Glamma Beijing«. Fotograf Sabrié hat sie zu Hause besucht, wo sie mit ihrer Enkelin Teigtaschen füllte. Sun sagte ihm, es sei wichtig, dass ihre Generation


digital das Wort ergreife. Um auf die Probleme der Rentnerinnen aufmerksam zu machen und um zu zeigen, dass Altsein nicht dasselbe ist wie Zur-Last-Fallen. Dass man weiter eine mündige


Bürgerin ist, mitgestalten kann. Mehr als die Hälfte der Alten in China seien in sozialen Netzwerken aktiv. Dort haben sie: einen Ort zum Treffen. Zum Austausch. Zum Vorbilder-Finden. Sabrié


besuchte noch eine weitere Gruppe neuerdings berühmter älterer Frauen. »Sister Wang Is Coming« nennt sie sich, ist ganz anders als die »Glamma Beijing«, aber ähnlich erfolgreich. Es sind


Frauen vom Land, die in einem Dorf außerhalb von Peking leben – und rappen. Über Essen. Übers Kochen. Einer ihrer Songs heißt »Spicy Hot Pot Real Rap«, und es ist so etwas wie ein gerapptes


Kochrezept. Die Frauen filmen sich beim Singen, oft stehen sie in den Musikvideos auf Wiesen, im Wald, in ihren Gärten, ernten Radieschen und Kohl. Oft hilft ein Enkel beim Filmen. Der


Gruppe, die in Schlabbershirts, Klettverschlussschuhen und bequemen Hosen in der Natur steht, geht es nicht um Style und Klamotten. Es geht um großen Spaß. Spaß, den sie ihren Followern


weitergeben wollen. Vor allem denen, die einsam und siebzigjährig zu Hause sitzen, eingeloggt bei TikTok. DIESER BEITRAG GEHÖRT ZUM PROJEKT GLOBALE GESELLSCHAFT Unter dem Titel »Globale


Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus ASIEN, AFRIKA, LATEINAMERIKA UND EUROPA über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen


und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig


angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt. Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier. Die Bill & Melinda Gates


Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Millionen Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. 2021 wurde das Projekt zu gleichen


Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr 2025 verlängert. Ja. Die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Gates-Stiftung. Ja. Große europäische Medien wie »The


Guardian« und »El País« haben mit »Global Development« beziehungsweise »Planeta Futuro« ähnliche Sektionen auf ihren Nachrichtenseiten mit Unterstützung der Gates-Stiftung aufgebaut. Der


SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation umgesetzt: die »Expedition


ÜberMorgen « über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals «, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte Multimediareportagen zu den Themen


Migration und Flucht entstanden sind. Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft .