Meinung: kolumne sascha lobo: zeitalter des pseudoprivaten beginnt

Meinung: kolumne sascha lobo: zeitalter des pseudoprivaten beginnt


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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? Zu gern


wüsste man, ob es die gleichen Leute sind, die 2010 zu Hunderttausenden gegen die Fassadenfotografie von Google Street View aufbegehrten und diejenigen, die heute achselzuckend die


flächendeckende Überwachung des Internets hinnehmen. Wahrscheinlich ja, und zwar in Person eines normalen Passanten in der Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt. Die Person also, die die


Gesellschaft selbst _ist _und ihre Mitte noch dazu, derentwegen der ganze Polit- und Medienzirkus veranstaltet wird: der _Bürger_, der Souverän, dieses Rätsel der Neuzeit. Mit der großen,


umfassenden Nichtreaktion des Bürgers auf die Snowden-Enthüllungen deutet sich eine verstörende Entwicklung an - eine Neudefinition von Privatsphäre. Die schon im Juni sehr unterhaltsam in


einem leicht manipulierten Screenshot von Facebook  perfekt illustriert wurde. Da konnten Nutzer wählen, wer ein Facebook-Posting sehen darf: "alle und die NSA", "nur meine


Freunde und die NSA", "nur ich und die NSA". ES ZÄHLT OBERFLÄCHLICHE INSZENIERUNG VON PRIVATSPHÄRE Privatsphäre in Zeiten der Internetüberwachung unterliegt automatisch einer


Art Staatsvorbehalt, Privatsphäre wird zum unfreiwilligen Public Private Partnership: So halb hängt der Staat irgendwie immer mit drin. Es scheint dem Bürger nicht um Privatsphäre als Wert


zu gehen, sondern um die oberflächliche Inszenierung von Privatsphäre. Es beginnt das Zeitalter des Pseudoprivaten. Pseudoprivat ist faktisch das Gegenteil von privat, aber fühlt sich so


ähnlich an. Immerhin. Pseudoprivatsphäre: wo egal ist, was der Staat weiß, solange es die Nachbarn nicht wissen. Dabei greifen sehr geschmeidig, aber mit fataler Wirkung ineinander: * die


Neigung von Politik und Staatsapparaten, die Grenzen ihrer Macht so weit auszudehnen, bis der Druck der Öffentlichkeit zu groß wird, * die Neigung des Bürgers zur Bequemlichkeit. Die vielen


Millionen Bürger, die sich wegen der Spähaffäre gezielt nicht empört haben, sie haben ein kraftvolles Signal ausgesendet: alles schick, weiter so. Die Politik versteht Schweigen als


Zustimmung. Vielleicht sogar zu Recht. "Ja und?", fragt der Fußgängerzonenpassant in seiner Eigenschaft als bruttosozialproduktiver Vizeabteilungsleiter der Sowieso-Werke. Er ist


die fleißige, nicht unintelligente Verkörperung der kraftvollen deutschen Wirtschaft und hat Merkel gewählt. Nicht trotz oder wegen deren Politik zur Überwachung, sondern völlig unabhängig


davon aus Sympathie und weil es so leicht ist, Merkel okay zu finden. Das Merkelsche Okayheitsprinzip, die machterhaltende Strategie, okay gefunden zu werden. Sie ist nicht arrogant, und


wenn man nicht so genau hinschaut, könnte man diese plakative Abwesenheit von Arroganz - "Sie kennen mich" - als ein Zeichen der eigenen Machtbeschränkung fehldeuten. Man täte


Angela Merkel Unrecht, denn sie ist es, deren aggressives Wegschweigen des Überwachungstsunamis den Boden bereitet für die Pseudoprivatsphäre des 21. Jahrhunderts. DIE DIGITALE VERNETZUNG


HAT DIE GESELLSCHAFT LÄNGST EROBERT Die Spähaffäre ist längst nicht mehr nur NSA-Angelegenheit, sondern nur das Symptom einer weltweiten, kalten Sicherheitshysterie. Der BND hat den


Frankfurter Netzknoten DE-CIX angezapft, über den weitgehend innerdeutscher Datenverkehr läuft. Den darf der BND nicht ablauschen. Dem Fußgängerzonisten ist das nicht so wichtig, und mit


Rückendeckung der Politik scheint wie für die NSA auch für die deutsche Geheimdienste "dürfen" gar kein Kriterium mehr zu sein. Sondern bei Bedarf eine drittelwegs plausible


Erklärung für das zu finden, was man ohnehin tut. Da passt ins Bild, dass über Jahre gezielt Gespräche zwischen Strafverteidigern und ihren Mandanten belauscht wurden. Das ist die


Aufkündigung des Rechtsstaats durch Ermittlungsbehörden. Solches Handeln der Apparate ist kein Zufall, sondern das Produkt einer Politik, die ihre Vorstellung von Gesellschaft für relevanter


hält als das Grundgesetz. Deshalb fabuliert ein Innenminister Friedrich von einem nonexistenten Supergrundrecht Sicherheit, und ein Teil der Behörden versteht es genau so, wie es gemeint


ist: Macht euren Job, ohne auf den nervigen Grundrechtskrempel zu achten, wir halten euch den Rücken frei und finden hinterher eine Erklärung. Für die Demokratie besonders fatal ist, dass


die Innenpolitiker der Unionsparteien ohnehin, von der SPD aber tendenziell ebenso diesem Glauben anhängen. TOTALÜBERWACHUNG IM NETZ TRIFFT DIE GESAMTE GESELLSCHAFT Dem Bürger in seiner


verdammten Fußgängerzone, man würde ihm so gern keinen Vorwurf machen wollen. Aber man muss. Denn die digitale Gesellschaft ist viel weiter fortgeschritten, als die meisten glauben, die der


Überwachung meinen zu entgehen, wenn sie auf Facebook nur Quatsch sharen. Digitale Patientenakten, Zahlungsverkehr, Verkehrsmessinstrumente, Steuerdaten, Einkaufsverhalten, Postverkehr,


Telefon, Kommunikation, Konsum. Die digitale Vernetzung ist schon überall, auch in den Bereichen, die auf den ersten und zweiten Blick netzunverseucht scheinen. Und damit haben sich auch die


Überwachungsinstrumente verbreitet, gegen die Angela Merkel so engagiert nichts tut. Weil sie es so entschieden hat. Während man von den möglichen Koalitionspartnern die tollsten Wünsche


vernimmt, aber der im Wahlkampf instrumentalisierte, millionenfache Grundrechtsbruch nicht die geringste Rolle spielt. Der Trugschluss, dem vermutlich auch einige Politiker, in jedem Fall


aber der Bürger erlegen ist: Die digitale Vernetzung hat längst die Gesellschaft erobert und ihre Regeln übergestülpt. Die Totalüberwachung des Internets, sie ist gleichbedeutend mit der


Totalüberwachung der Gesellschaft. Nicht nur die digitale Variante, die ganze Privatsphäre ist zur Pseudoprivatsphäre verkommen. TL;DR Dem Bürger ist die Netzüberwachung egal, aber weil das


Netz längst überall ist, beginnt die Ära des Pseudoprivaten.