
Inflation: Steigende Preise sind zurück – schwindet jetzt Ihr Geld? - DER SPIEGEL
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Der gute alte Warenkorb: Alles wird teurer – und die Leute reden wieder über Inflation
»Preisstabilität ist, wenn die Leute aufhören, sich über Inflation zu unterhalten.« Sorgen sollten wir uns hingegen machen, wenn auch »die Notenbanken aufhören, über Inflation zu reden«.
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund, wo er spezialisierte Wirtschaftsjournalismus-Studiengänge leitet. Zuvor arbeitete
der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazins. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er
jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.
Erst ein halbes Jahr ist dieses Zitat alt. Es stammt von Mervyn King, dem britischen Ökonomen und früheren Chef der englischen Notenbank. Der Anstieg der Verbraucherpreise war im Frühjahr
2021 noch kein großes Thema. Die Notenbanken, zumal die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-amerikanische Federal Reserve, äußerten sich lieber zu populäreren Politikfeldern, zum
Klimaschutz beispielsweise oder zur gesellschaftlichen Chancengleichheit. Inflation beschäftigte allenfalls nerdige Volkswirte (und ein paar chronisch preispanische Deutsche).
Mit den Gedanken war man noch im letzten Lockdown und froh, dass sich das Leben endlich wieder normalisierte und die Wirtschaft in Fahrt kam.
Die andauernde Bescheidenheit ist ein Problem. Denn die Lage an der Preisfront hat sich ziemlich drastisch geändert: Die Leute reden wieder über Inflation. Ein untrügliches Zeichen, dass die
Gewissheit andauernder Preisstabilität – der Normalzustand der zurückliegenden Jahrzehnte – schwindet.
Im November dürften die Verbraucherpreise in Deutschland um sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen sein (aktuelle Zahlen gibt's Montag und Dienstag). Klar, der Anstieg ist
überzeichnet durch die schwache Preisentwicklung während der Lockdowns 2020 und die zeitweilige Mehrwertsteuersenkung. Aber: Da ist noch mehr Druck im Kessel.
Die Erzeugerpreise, die die Unternehmen für ihre Einkäufe bezahlen, sind zuletzt um mehr als 18 Prozent gegenüber 2020 gestiegen – das größte Plus seit 1951, wie das Statistische Bundesamt
vermerkt . Rohstoffe und Vorprodukte sind rar, Energie ist teuer. Nun planen die Firmen, ihre höheren Kosten an die Kunden weiterzureichen: Die aktuelle Geschäftsklima-Umfrage des
Ifo-Instituts hat ergeben, dass in der Industrie und im Handel eine »deutliche Mehrheit« der Unternehmen die Preise erhöhen will. Noch nie seit Beginn der Umfragen haben die Münchner
Wirtschaftsforscher einen so großen Anteil von preissteigerungswilligen Unternehmen ermittelt.
Die Inflation ist zurück, und zwar mit einer Wucht, die auch die Notenbanken wieder dazu veranlasst, darüber zu reden – wenn auch in beschwichtigendem Tonfall. Jerome Powell, Chef der
US-Notenbank Fed, sprach kürzlich von einem »Inflationsausbruch« , den man bald in den Griff bekommen werde. EZB-Präsidentin Christine Lagarde räumte vor dem Währungsausschuss des
EU-Parlaments ein, man sei von der Preisdynamik überrascht ; das erwartete Abflauen der Inflationsraten werde wohl »länger dauern als ursprünglich erwartet«.
Für die Beschäftigten ist dies eine höchst ungemütliche Situation. Die moderaten Abschlüsse, auf die sich die Gewerkschaften angesichts der Pandemie eingelassen haben, erweisen sich nun als
zu niedrig, um die Kaufkraft der Löhne zu erhalten.
Aktuelle und kommende Tarifauseinandersetzungen dürften deshalb an Heftigkeit zunehmen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di verlangt in den Verhandlungen für die Staatsbediensteten der
Bundesländer bereits ein Plus von fünf Prozent – und verweist explizit auf die gestiegene Inflation. In diesem Stil dürfte es kommendes Jahr in den Tarifrunden für die großen
Industriebranchen weitergehen.
Falls die Beschäftigten überhaupt so lange stillhalten: Sollte der Preisdruck 2022 nicht nachlassen, könnten Forderungen nach Lohnnachschlägen laut werden, die den Verteilungskampf direkt in
die Betriebe tragen. Immerhin hat sich die Verhandlungsposition der Beschäftigten deutlich verbessert: Arbeitskräfte sind knapp, die Zahl der unbesetzten Stellen ist hoch. Viele Unternehmen
verdienen derzeit blendend. Die Gewinne sind auf Rekordkurs – trotz Lieferengpässen und vierter Coronawelle. Aus Arbeitnehmersicht könnte die Situation kaum günstiger sein, um eigene
Forderungen durchzusetzen.
Besonders pikant: Ausgerechnet Ipso, die Gewerkschaft der EZB-Beschäftigten, fordert ein sattes Gehaltsplus. Kürzlich erhielten die EZBler eine E-Mail, in der die Gewerkschaft »beträchtliche
Kaufkraftverluste« vorhersagte. Die EZB-Führung sei »nicht in der Lage (oder willens?), ihre eigene Belegschaft vor den Auswirkungen der Inflation zu schützen«. Die Gehälter der
Notenbank-Beschäftigten würden 2022 nur um 1,3 Prozent steigen, während die Lebenshaltungskosten am EZB-Sitz Frankfurt davoneilten.
Um die Beschäftigten finanziell abzusichern, schlagen die Ipso-Vertreter eine Inflationsindexierung vor, also eine automatische Kopplung der Gehälter an die – deutsche – Inflationsrate.
Rechnet man auch noch einen Zuschlag für die eurozonenweiten Produktivitätszuwächse hinzu, wie er den Notenbankgewerkschaftern vorschwebt, könnten leicht Gehaltssteigerungen um fünf Prozent
dabei herauskommen.
Der Vorstoß bringt die EZB-Spitze um Christine Lagarde in Verlegenheit. Zum einen zeigt das Ansinnen der Belegschaftsvertreter, dass sie den Zusicherungen ihrer Chefin misstrauen, die nicht
müde wird zu betonen, »mittelfristig« würden die Inflationsraten wieder auf unter zwei Prozent sinken. Zum anderen könnte eine Koppelung der Notenbanker-Gehälter an die Preissteigerungsrate
zum Vorbild für andere Branchen werden und damit eine inflationäre Eigendynamik antreiben – wenn nämlich die Firmen wiederum steigende Lohnkosten auf die Preise umlegen
(»Lohn-Preis-Spirale«).
Bislang geht Lagarde davon aus, dass ein solches »Risiko von Zweitrundeneffekten begrenzt bleibt«. Auch deshalb gibt sie sich zuversichtlich, was die weiteren Inflationsaussichten angeht.
Würden hingegen indexierte Tarifverträge zur Euro-Norm, wäre es für die Notenbank künftig umso schwieriger, die Inflation im Griff zu behalten.
Wir haben es mit einer historischen Trendumkehr zu tun. In den vergangenen Jahrzehnten wirkten die Globalisierung der Wirtschaft und die demografische Entwicklung in die gleiche Richtung:
Ein großes Angebot an Gütern und Arbeitskräften dämpfte den Anstieg von Preisen und Löhnen. Beschäftigte und Gewerkschaften taten sich schwer damit, anständige Lohnerhöhungen durchzusetzen.
Auch deshalb war es für die Notenbanken in dieser Phase relativ leicht, die Inflation im Griff zu behalten.
Nun stehen wir am Beginn einer neuen Ära: Einerseits wird die Globalisierung der Wirtschaft durch neue Handelsschranken schrittweise zurückgedreht. Andererseits hat eine »große demografische
Umkehr« begonnen, wie die Ökonomen Charles Goodhart und Manoj Pradhan in ihrem gleichnamigen Buch (»The Great Demographic Reversal«) schreiben: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen
allmählich in den Ruhestand, die Erwerbsbevölkerung beginnt zu schrumpfen, nicht nur im Westen, auch in Ländern wie China. Beides verhilft den verbliebenen Beschäftigten zu größerer
Verhandlungsmacht, während zugleich die Inflationsgefahren steigen.
Dieses Szenario macht das Abgleiten in immer neue Inflationsspiralen und Verteilungskämpfe wahrscheinlicher. Insofern ist es umso wichtiger, dass die Notenbanken jetzt nicht die
Preissteigerung aus dem Ruder laufen lassen. Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, dürfte sich in Zukunft als deutlich schwieriger erweisen als in der Vergangenheit.
Bis die Leute wieder aufhören, sich über Inflation zu unterhalten, wird noch eine ganze Weile vergehen.
Wiesbaden – Das wird teuer – Das Statistische Bundesamt gibt eine erste Schätzung für die Inflationsrate im November 2021 bekannt.
Wien – Atomic Café – Neustart der Atomgespräche mit Iran, die unter Trumps US-Präsidentschaft abgebrochen wurden. Mit dabei: Russland, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.
Nürnberg – Weniger Beschäftigte – Die Bundesagentur für Arbeit legt neue Zahlen vor. Wie in anderen Ländern auch, so sind in Deutschland infolge der Pandemie viele Beschäftigte aus dem
Arbeitsmarkt ausgeschieden. Sie fehlen jetzt, nicht nur in der Krankenpflege, und verbessern die Verhandlungsposition der Werktätigen.
Luxemburg – Attention, Christine! – Die EU-Statistikbehörde Eurostat legt eine erste Schätzung für die Inflation im Euroraum im November vor.
Peking – Stimmung? Süß-sauer – Die Behörden legen Ergebnisse von Umfragen unter chinesischen Einkaufsmanagern vor.
Stuttgart – Kernspaltung – Daimler gliedert seine Nutzfahrzeugsparte in eine unabhängige Tochterfirma, Daimler Truck, aus. Der Börsengang ist für den 10. Dezember geplant.
Wiesbaden – Deutsche Stärke – Neue Zahlen vom Statistischen Bundesamt vom Export
Frankfurt – Deutsche Schwäche – Der Maschinenbauverband VDMA legt Daten zum Auftragseingang im Oktober vor. Zuletzt konnten sich die Firmen über volle Auftragsbücher freuen, aber sie bekamen
nicht genug Material, um die Orders abzuarbeiten.
Luxemburg – Erholung – Die Statistikbehörde Eurostat veröffentlicht Kennzahlen zur Arbeitslosigkeit.
Wien – Inflationstreiber – Das Ölkartell Opec+ (plus Russland insbesondere) berät über die Marktaussichten und über mögliche Produktionssteigerungen.
Washington – Leer gefegt – Die US-Regierung veröffentlicht Arbeitsmarktzahlen. Warum weniger Leute arbeiten wollen als vor der Pandemie, ist eine ungeklärte Frage.
Frankfurt – Klassenerhalt? – Die Deutsche Börse überprüft die Zusammensetzung von Dax und Co.
Der gute alte Warenkorb: Alles wird teurer – und die Leute reden wieder über Inflation