Nachruf auf ingeborg gertrud schneider: das war halt so

Nachruf auf ingeborg gertrud schneider: das war halt so


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Sie hätte sich nicht immer hintanstellen sollen, hätte durchaus mal auf den Tisch hauen können. Ihre Eltern wollten unbedingt zu der verbotenen 1. Mai Demonstration von 1929. Also gaben sie


Inge, genau fünf Monate alt, beim Großvater ab und zogen los, mitten hinein in die Schlacht. Die kommunistische Demonstration wurde auseinandergetrieben, die Polizisten schossen scharf, 29


Menschen starben. Und der Großvater saß zu Hause, Inge auf dem Schoß, und sorgte sich. Der Vater war Kaufmann, die Mutter Verkäuferin, sie wohnten am Bahnhof Gesundbrunnen, Berlin-Wedding.


Erst gab es Inge, dann eine Schwester, einen Bruder und noch eine Schwester. Inge liebte es, ihre Mutter bei Hertie abzuholen, vor dem Abteilungsleiter einen Knicks zu machen, so fein war es


da und luxuriös. Musste sie durch die Stadt, sparte sie sich den Groschen für die S-Bahn, lief die Strecke und kaufte sich davon ein Eis. Ihre Erzählungen hörten sich nach einer glücklichen


Kindheit an, bis 1939, als der Krieg anfing. Von jetzt auf gleich musste der Vater an die Front. Inge, als Älteste, kümmerte sich um ihre Geschwister, half beim Kochen und Einkaufen, bei


der Wäsche, und sie hatte die heilige Aufgabe auf die Tauben des Vaters aufzupassen. Einmal am Tag füttern, sauber machen, fliegen lassen. Das war halt so. Als Bomben auf Berlin fielen,


schaffte es die Mutter kaum, die Kinder rechtzeitig aus den Betten zu holen und in den Luftschutzkeller zu schaffen. Inge hasste den Geruch von frischem Zement, der in der ganzen Stadt zu


hängen schien, so viele Bunker wurden gebaut. Dann erwischte es das eigene Haus, die eigene Wohnung und auch die Tauben. Verschickung nach Thüringen, Einquartierung auf einem Bauernhof,


natürlich musste Inge auch hier mitarbeiten. Der Vater überlebte den Krieg, entging der Kriegsgefangenschaft und stand schließlich vorm Tor des Bauernhofs. Empfohlener redaktioneller Inhalt


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Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können. SIE WAR WIEDER TANZEN 1947 hatte Inge genug von Schweinen und Hühnern. „Ich gehe nach Berlin“, verkündete sie, setzte sich in den


Zug und war weg. In der Charité wurden Krankenschwestern gesucht, sie bekam den Ausbildungsplatz, zog ins Schwesternheim. Die Vorgesetzten waren streng, die Tage und Nächte lang und hart.


Das war halt so. Kolleginnen wurden zu Freundinnen, gemeinsam gingen sie tanzen, gemeinsam fuhren sie ins Umland zum Hamstern. Hatte Inge Vertrauen zu jemanden gefasst, war sie witzig. Hatte


sie dann auch noch einen Schnaps getrunken, haute sie einen Spruch nach dem anderen raus. Sie war wieder tanzen, als Horst auf einmal vor ihr stand. Der wusste, was er wollte. Inge


verliebte sich, heiratete ihn, bekam eine Tochter und zwei Söhne. Horst kümmerte sich um die Finanzen, gab ihr Haushaltsgeld – obwohl sie ja eigentlich immer ihren eigenen Lohn verdiente.


Sie ließ es zu und arbeitete lieber abends in der Kartoffelsortieranlage, um noch etwas auf der Seite zu haben. Arbeiten, Kinder, Haushalt, Inge im Dienst: das war halt so. Sich zu


beschweren, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Jahrzehnte später sagte sie, dass sie sich nicht immer hätte hintanstellen sollen, dass sie durchaus mal auf den Tisch hätte hauen können. Ein


einziges Mal hatte sie sich durchgesetzt. Er wollte partout keine Haustiere – und sie kaufte sich trotzdem eine Schildkröte. Da war was los, doch die Schildkröte blieb. Horst arbeitete sich


vom Handwerker zum Außenhandelskaufmann hoch, trat in die SED ein. Das brachte gewisse Vorzüge: ein Fernseher, Westklamotten, und er bekam einen Trabant zugeteilt. Und die Pakete von Inges


Geschwistern aus dem Westen öffnete er auch gerne. Inge war erst Krankenschwester, dann Kindergärtnerin und schließlich arbeitete sie als Physiotherapeutin im Haus der Ministerien. Da hatte


sie einen Raum mit Liegen und Sportgeräten und half den Funktionären bei ihren Rücken- und Nackenproblemen. Inge arbeitete gerne, konnte für andere da sein, ob es nun tatsächliche


Arbeiterkinder oder angebliche Arbeiterführer waren. BIS INS DEATH VALLEY Als ihre eigenen Kinder rebellisch wurden, reagierte Horst mit Strenge. Erst war es die Tochter, zu der der Kontakt


abgebrochen werden sollte, weil sie während ihrer Ausbildung, mit 18, ein Kind bekam. Inge traf sich mit ihr heimlich und bearbeite Horst so lange, bis er sein Herz erweichen ließ. Dann


stellte der jüngste Sohn seinen Vater infrage: Einen auf Parteilinie machen und gleichzeitig Westluxus genießen – das passte doch nicht zusammen. Und wieder versuchte Inge zu schlichten.


1997 erkrankte Horst an Krebs. Inge pflegte ihn, gab ihm seine Morphium-Spritzen. Diese Zeit verband beide, die große Nähe, die Auseinandersetzung mit dem Tod. Sie redeten über ihr


gemeinsames Leben, die Reisen, die sie nach dem Mauerfall gemacht hatten, mit dem Camper durch die USA, bis ins Death Valley, das war ein Abenteuer! Horst konnte zu Hause sterben, dank Inges


Pflege. Als es geschah, war sie erschüttert. Und musste nun lernen, allein klarzukommen, auch mit dem Geld. Erst die Kinder, dann die Enkelkinder. „Oma war immer da, das zieht sich durch


mein ganzes Leben“, sagt ein Enkel. In ihrer Gartenlaube verbrachte er Woche um Woche in den Sommerferien, sie malte mit ihm, las vor, ging mit ihm schwimmen. Nach den Enkeln waren es die


Urenkel, die sie von der Kita abholte, zum Ballettunterricht brachte, alle zusammen fuhren sie in den Urlaub. Standen Feste an, lud sie ein und kochte, je voller die Bude, umso schöner. Sie


sah sich Joe Cocker in der Waldbühne an, die Zauberflöte in der Staatsoper, mit einer Freundin flog sie nach Sri Lanka, tauchte mit 80 durch eine mexikanische Unterwasserhöhle. Dann konnte


sie schlechter sehen, ihre Lunge und das Herz wurden schwächer. Jetzt kümmerten sich die Kinder und Enkel. Die Tochter rief jeden Tag um 19 Uhr an. Der eine Sohn holte sie zu sich ins Haus,


der andere fuhr mit ihr in den Urlaub. Waschen, Toilette, Anziehen, am Ende pflegte die ganze Familie ihre Mutter, Oma und Uroma. Am letzten Abend ihres Lebens wartete sie, bis sie allein


war, dann konnte sie gehen.